Ovidiu Anton

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Entlang den Straßen finden sich vielerorts Graffitis, schnell gesprayt, meist in der Nacht. Diese anonymen Botschaften im öffentlichen Raum zeugen von einem tiefen Bedürfnis: sich auszudrücken, eine Stimme zu erheben, Spuren zu hinterlassen. Bereits im Alten Ägypten ritzten Menschen Zeichen in Felsen und Wände – frühe «Graffitos, die heute Rückschlüsse auf den damaligen Lebensalltag ermöglichen.
Ovidiu Anton, der sich in seiner künstlerischen Praxis immer wieder mit dem öffentlichen Raum und gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzt, hat an verschiedenen Orten – etwa in Wien und Marseille – Graffitis aufgelesen und sie in seiner Werkgruppe Politische Graffiti (2010) transformiert. Mit leuchtenden Markern, die üblicherweise zur Hervorhebung bestimmter Wörter oder Textstellen dienen, setzt er der spontanen Geste einen langsamen, fast meditativen Prozess entgegen. Mit kleinen Strichen überzieht er Strich für Strich das Papier – einzig die ursprünglichen Schriftzüge bleiben ausgespart. Diese Leerstellen strahlen in reinem Weiß aus den orange-, pink-, grünleuchtenden Flächen heraus: Wie ein Echo rücken sie das Übersehene ins Zentrum.
Graffiti sind visueller Ausdruck des Ungehörten, oft geprägt von Wut, Widerstand und Ausdruckswillen. Sie erzählen von Subkulturen, von gesellschaftlichen Spannungen, von der Wirklichkeit der Ränder. Anton lenkt unseren Blick auf das vermeintlich Nebensächliche, das wir sonst nur flüchtig im Vorübergehen wahrnehmen. Er lädt uns ein, diese Botschaften zu lesen.
Mit seiner jüngsten Werkserie Graffiti-Übermalungen (2025) wendet sich der Künstler erneut den Zeichen des Straßenraums zu. Doch diesmal ist es nicht die Botschaft selbst, die er ins Zentrum rückt, sondern der Umgang mit ihr. Graffitis werden im öffentlichen Raum regelmässig mit «neutralem» Grau übermalt – hinter diesem Akt der Pflege steckt zugleich ein Akt der Auslöschung, der paradoxerweise neue Spuren hinterlässt. Diese monochromen Farbfelder mit ihren unregelmässig auslaufenden Rändern erinnern einerseits an minimalistische, rechteckige Kompositionen und anderseits an wolkenhafte Gebilde.
Ovidiu Anton überträgt diese Umrissformen auf weiß, graublau oder lachsrosa lasierte Holzplatten und graviert sie ein. Die Fugen füllt er mit dunklem Schiffskitt – ein Material, das auf Reparatur und Abdichtung verweist. So entstehen erneut Leerstellen – doch diesmal drängen sich die Fragen auf: Was will man zum Schweigen bringen? Was darf nicht sichtbar sein?
In der Ausstellung findet sich auch eine grossformatige Wandtapete, basierend auf einer Schwarz-Weiss-Fotografie des Künstlers. Sie bringt den Aussenraum in den Innenraum und macht die Referenz der Übermalung unmittelbar erfahrbar. Diese Wandarbeit verankert die Werke in einer konkreten Realität, während die abstrahierten Umrisslinien auf den Holzplatten eine stille, zugleich eindringliche Übersetzung dieser Wirklichkeit in die Sprache der Form und Materialität bieten.
Wie sehr diese beiden Dimensionen – Form und Materialität – für Ovidiu Anton zentrale Bedeutung haben, zeigt sich in einer dritten, neu entstandenen Werkgruppe mit dem Titel Wolken. Mehrere im Raum schwebende Skulpturen bestehen aus ineinander verschlungenen Astgabeln und Zweigen, die in sich gewunden und miteinander verbunden sind. Ihre amorphen Schleifen erinnern an Wolkenformationen – schwerelos, schwebend. In einigen dieser Arbeiten arbeitet Anton zusätzlich mit Farbe: Ein Ast wird weiß, der andere rot geölt. Die Skulpturen sind so konzipiert, dass nie zwei Äste derselben Farbe nebeneinander sind. So entsteht ein rhythmisches Wechselspiel von Rot und Weiß, das die Bewegung innerhalb der Struktur betont und zugleich eine formale Spannung erzeugt. Die Farbwahl erinnert dabei subtil an rot-weisse Warnmarkierungen, wie man sie von Absperrungen und Hindernissen im öffentlichen Raum kennt.
Die Form der Wolken – spontan, zufällig, sich stetig wandelnd – entzieht sich jeder Kontrolle. Sie entsteht durch klimatische Prozesse, wirkt wie eine autonome Erscheinung und doch tragen Wolken heute Spuren menschlichen Handelns in sich. Anton bringt diese Flüchtigkeit in Beziehung zu den Spuren der Graffiti-Übermalungen. Auch hier entstehen Formen, die nicht gezielt komponiert, sondern beiläufig erzeugt werden – im Wechselspiel zwischen dem schnellen, oft heimlichen Akt des Sprayens und dem gestischen Eingriff des Übermalens. In dieser Gegenüberstellung zeigt sich eine stille Korrelation zweier Formen des Sichtbaren – der atmosphärischen und der urbanen Spur.
Der Ausstellungstitel The same as the last, but darker at the bottom than the top verweist auf Wiederholung und minimale Abweichung, auf eine Differenz im Gleichen. Der Satz stammt aus einer Wolkenzeichnung des in Sankt Petersburg geborenen britischen Landschaftsmalers Alexander Cozens (1717–1786). Dieser entwickelte ein System typologischer Wolkenstudien, das sich durch zunehmende Abstraktion auszeichnet. In einem Traktat findet sich sogar die Darstellung einer Wolke als reine Umrisslinie. Der Übergang von der Beobachtung der Natur zur strukturellen Verdichtung spiegelt sich in gewisser Weise auch in Antons Auseinandersetzung mit den Spuren des Urbanen wider.
Ovidiu Antons Werk macht deutlich, wie eng Kunst mit ihrer Umgebung verflochten ist –nicht abgetrennt, sondern mitten im Leben verortet. Seine Arbeiten berühren auf ihre eigene Weise und machen sichtbar, was oft übersehen wird.
(Text: Christiane Meyer-Stoll, 2025)